Jie-Hyun Lim:
Opfernationalismus
Erinnerung und Herrschaft in der postkolonialen Welt
Aus dem Englischen von Utku Mogultay ("Victimhood Nationalism")
Verlag Klaus Wagenbach, 2024
Während nationalistische und faschistische Bewegungen ihre Legitimation früher in Heldengeschichten des unbesiegbaren Volkes fanden, schöpfen heute weltweit immer mehr ethnische Gruppen, Völker und Nationen ihr Selbstbewusstsein aus einer Opfergeschichte und leiten daraus einen Status ab, der sogar vererbt werden soll.
"Mit vergleichendem Blick auf Polen, Deutschland, Israel, Japan und Südkorea zeigt Jie-Hyun Lim scharfsinnig, welche Probleme ein solcher Opfernationalismus mit sich bringt, wenn er sich als Machtpolitik formiert: Vergangenheit wird verfälscht, die Opfer selbst werden mitunter unsichtbar gemacht und Herrschaft legitimiert." (Werbetext des Verlags)
Dabei entsteht eine Konkurrenz darum, wer die größten Opfer erbracht hat - und zwar nicht als Helden, die sich für die Nation geopfert haben, sondern als Opfer illegitimer Gewalt oder gar von Völkermorden. Haben die Juden oder die Polen, die Russen oder die Ukrainer, die Israelis oder Palästinenser die größeren Opfer erbracht? Die Einwohner Conventrys oder Dresdens? Lassen sich Faschismus, Stalinismus, Kolonialismus vergleichen? Sind Flucht und Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ostmitteleuropa mit den Fluchtbewegungen aus Afghanistan oder Syrien zu vergleichen?
Gleichzeitig wird die Opferrolle vieler Völker und Nationen aus verschiedenen Gründen bestritten. Fielen die Bürger Leningrads einem Völkermord durch Hungerkrieg zum Opfer oder waren es "normale" Begleiterscheinungen - sozusagen "Kollateralschäden" - einer Belagerung? Was ist mit Gaza? Und wie was das mit den Hereros und Nama? Wurden sie für ihren gewaltsamen Aufstand "bestraft" oder sollten sie als Volk vernichtet werden, was von Trotha und von Schlieffen explizit beabsichtigten?
Die Indonesier hätten allen Grund, sich als Opfer zweier Kolonialmächte zu fühlen - der Holländer und auch der Japaner, unter deren kurzer Herrschaft Millionen Menschen verhungerten - und eines vom Ausland unterstützten militärischen Putsches, der zum Genozid an Hunderttausenden Chinesen und zum Massenmord an Kommunisten führte.
Wir haben uns das Bild von Taring Padi daraufhin angeschaut und finden keine Spur von Opfernationalismus. In der Totenhütte trauern Menschen verschiedener Konfessionen still um die Toten, die "Opfer staatlicher Gewalt" wurden - so die Inschrift. Auf Grabsteinen wird der Toten aus vielen Regionen des Globalen Südens bzw. Ostens gedacht, aber auch der Opfer des G8-Gipfels in Genua 2001, bei dem der italienische Student Carlo Giuliani aus einem Polizeiauto heraus erschossen und dann überfahren wurde, während Hunderte verletzt und einige nachweislich gefoltert wurden.
Auf dem Bild von Taring Padi finden sich keine Anzeichen von Heroismus, Nationalismus oder Opferkonkurrenz. Nur die Täter auf der linken Seite sind eindeutig und trennscharf benannt, während rechts die Kräfte des internationalen Widerstands erkennbar werden. Der Blick von Taring Padi ist nicht rückwärts gewandt, sondern vorwärts. Ihr Interesse ist nicht die Abrechnung mit den Tätern, sondern deren klare Benennung als Kriegsverbrecher und Verantwortliche von Genoziden.
In seinen Überlegungen entwirft Lim die Grundzüge für einen globalen Erinnerungsraum, der auf Anteilnahme und Diversität und nicht auf Konkurrenz beruht. Seine Anmerkungen wären auch für die deutsche Erinnerungskultur wichtig. Er spricht am 25. April 2024 in Potsdam:
Jie-Hyun Lim: Victimhood Nationalism. A Global History
Vortrag und Diskussion
Einstein Forum
Am Neuen Markt 7 , 14467 Potsdam
Uhrzeit: 19:00 Uhr
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